Kontinuitaet und Wandel in der japanischen
Arbeitswelt.
Chancen durch kulturell unterschiedliche
Loesungsansaetze ? Toru Kumagai
Passau, 19. Oktober 2007
Bei der vierten Interkulturellen Konferenz die von ICU net AG in Passau organisiert wurde
1
Einleitung
Meine sehr geehrte Damen und Herren,
ich moechte mich herzlich bedanken, dass
Sie mir eine Gelegenheit gegeben haben, hier
einen Vortrag zu halten. Es ist eine grosse
Ehre fur mich. Ich moechte mich Ihnen kurz
vorstellen. Ich bin in Tokio geboren und
habe in Tokio Volkswirtschaftswissenschaften
studiert.
Ich habe 8 Jahre beim japanischen oeffentlich-rechtlichen
Fernsehsender NHK (Japanisches Fernsehen)
als Redakteur und Korrespondent gearbeitet.
Als Fernsehreporter habe ich nicht nur in
Japan, sondern auch in Deutschland, Polen,
der damaligen Sowjetunion, in den USA und
Nahost recherchiert. Ich habe auch als Auslandskorrespondent
in Washington DC uber die amerikanische Politik
berichtet.
Seit 17 Jahren wohne ich in Muenchen und
arbeite als freiberuflicher Journalist fur
verschiedene japanische Medien.
Bisher habe ich 9 Buecher uber Deutschland
in Japan veroeffentlicht und arbeite im Moment
an meinem zehnten Buch uber Deutschland.
2
AEhnliche Symptome zwischen Deutschland und
Japan
Mein achtes Buch, das ich letztes Jahr in
Japan veroeffentlicht habe, befasst sich
mit den wirtschaftlichen, und demographischen
Herausforderungen, mit denen sich Deutschland
und Japan im 21. Jahrhundert auseinandersetzen
muessen. Der Titel ist: ?Was kann man von
der deutschen Krankheit lernen?g.
Ich habe dieses Thema ausgewaehlt, weil Deutschland
und Japan meiner Meinung nach aehnliche Probleme
haben.
Beide Laender haben nach dem Zweiten Weltkrieg
den Angriffskrieg als Fortsetzung der Politik
verurteilt und haben sich damit abgefunden,
auf der Buehne der internationalen Machtpolitik
Zwerge zu bleiben. Wir haben uns stattdessen
auf die Steigerung des wirtschaftlichen und
sozialen Wohlstands konzentriert.
Wir beide haben mehr Wert auf die Verbesserung
der Produkte und der Arbeitsablaeufe in der
Produktionsstaette gelegt, als auf die Ausdehnung
der geopolitischen Machtsphaere. Die Rechnung
ging auf, und wir haben beide ein bemerkenswertes
Wirtschaftswachstum realisiert und sind zu
den wichtigsten Exportnationen der Welt geworden.
Unser Wohlstand in Deutschland und Japan
kann sich sehen lassen. Aber es stellt sich
jetzt die Frage, ob es sich noch in Zukunft
halten laesst. Ich sehe sogar einige Anzeichen
in beiden Laendern, dass dieser Wohlstand
ohne ausserordentliche Anstrengungen und
Kurskorrekturen nicht mehr zu halten ist.
Zwei Patienten zeigen zum Teil aehnliche
Symptome.
-
relativ hohe Arbeitskosten im Vergleich zu
Nachbarlaendern
-
der Ruckgang der internationalen Wettbewerbsfaehigkeit
-
relativ niedrige Wachstumsrate
-
die schnelle Alterung der Gesellschaft
Es sind typische Symptome fur hoch entwickelte
Industrielaender, die sich nicht rechtzeitig
an die Globalisierung der Wirtschaft angepasst
haben. Aufstrebende Nachbarlaender mit niedrigeren
Arbeitskosten folgen den beiden Laendern
auf den Fersen.
Aus diesem Grunde befindet sich die japanische
Arbeitswelt in einem grossen Wandel. Bevor
ich auf dieses Thema eingehe, moechte ich
zunachst erklaeren, wie die traditionelle
japanische Arbeitswelt bis Ende der 90er
Jahre war.
3. Traditionelle stabile Arbeitswelt Japans
verlangt viel
Japanische Grossunternehmen nach dem Zweiten
Weltkrieg waren von der Immobilitaet der
Arbeitnehmer gekennzeichnet. In diesem System
der lebenslangen Anstellung war es ueblich,
fast 30 Jahre lang bei einem gleichen Unternehmen
zu arbeiten.
In einem traditionellen japanischen Unternehmen
gab es und gibt es immer noch keinen Arbeitsvertrag
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Als
ich 1982 angefangen habe, als Reporter beim
groessten Fernsehsenders zu arbeiten, habe
ich keinen Arbeitsvertrag bekommen. Ich wusste
gar nicht, wie viel bezahlten Urlaub ich
hatte, oder wie lange meine Kuendigungsfrist
war.
Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren und
? sind auch heute bei den meisten Unternehmen
? nicht auf gleicher Ebene. Ich habe auch
nach Einzelheiten nicht nachgefragt, weil
ich gluecklich war, von diesem renommierten
Sender ueberhaupt angestellt zu sein. Wenn
ich so was getan haette, haette ich schon
als ?verdaechtigg gegolten und am Anfang
der Karriere die Aufstiegschancen selbst
verdorben.
Normalerweise mussten Arbeitnehmer nicht
um Arbeitsplaetze bangen, solange sie sich
den Vorgesetzten und Kollegen gegenueber
loyal verhielten. Die Faustregel war, ?Wer
aus der Reihe tanzt, wird bestraftg.
Der Betriebsrat ist viel schwaecher als in
Deutschland und ist fast ein Teil des Unternehmens.
Im Fernsehsender, wo ich arbeitete, haben
die leitenden Angestellten entschieden, welcher
Mitarbeiter in einem bestimmten Jahr fuer
den Betriebsrat arbeitet.
Das japanische Arbeitsverhaeltnis basierte
nicht auf Vertrag sondern auf Vertrauen.
Dieses fur Europaeer fast unglaubliche System
hat fast 50 Jahre lang gut funktioniert,
weil die japanische Wirtschaft fast ununterbrochen
gewachsen ist.
In Deutschland spielt Vertrag in vielen Bereichen
der Gesellschaft eine grosse Rolle. In der
japanischen Arbeitswelt hat ein Vertrag im
Gegensatz dazu fast keine Rolle gespielt.
Da hatten Vertrauen und das Gemeinschaftsgefuehl
mehr Gewicht.
In Japan war das Einstiegsgehalt relativ
niedrig gehalten, aber wenn man geduldig
und lange bei einem Unternehmen beharrt,
bekam man fast automatisch eine Position
als leitender Angestellter und hohes Gehalt.
Auch in vielen japanischen Grossunternehmen
bekamen die Mitarbeiter zweimal pro Jahr
einen Bonus. Bis Anfang der 90er Jahre haben
viele Grossunternehmen vier bis fuenf Monatsgehaelter
als einen Bonus bezahlt.
Als Gegenleistung fur das Sicherheitsgefuehl
verlangt japanisches Unternehmen viel von
Mitarbeitern. Japanische Angestellte haben
offiziell zwei Wochen Urlaub aber aus Ruecksicht
auf die anderen nimmt man normalerweise nur
eine Woche frei.
Als ich in Japan gearbeitet habe, musste
ich mich beim Vorgesetzten entschuldigen,
um eine Woche Urlaub zu nehmen. Japanische
Angestellte haben praktisch immer noch kein
Recht, laengeren Urlaub wie in Deutschland
ueblich zu nehmen.
Ein Journalist hat sogar seinen Arbeitgeber
vor Gericht verklagt, um 10 Tage Urlaub zu
nehmen. Er hat den Fall verloren. Wenn man
in Japan vom Urlaub zurueckkommt, muss man
den Kollegen in der Abteilung Geschenke aushaendigen,
weil die Anderen wegen seiner Abwesenheit
mehr arbeiten mussten.
Laut einer Umfrage des japanischen Arbeitsministeriums
haben japanische Berufstaetige 2005 durchschnittlich
nur noch 47% der Urlaubstage genommen. Es
ist das niedrigste Niveau nach dem Zweiten
Weltkrieg.
Die Japaner arbeiten am laengsten unten den
fuehrenden Industrielaendern. Im Jahr 2005
betrug die durchschnittliche Jahresarbeitszeit
in Japan 2013 Stunden. Es ist 26% laenger
als in den alten Bundeslaendern.
Aus diesem Grunde ist die Arbeitsproduktivitaet
im japanischen Dienstleistungssektor viel
niedriger als in Deutschland. Selbst viele
japanische Angestellte denken, dass ihre
Arbeitsablaeufe zu kompliziert sind. Die
internen Abstimmungsverfahren, die Vorbereitung
der Unterlagen fur interne Praesentationen
und die komplizierten Entscheidungsprozesse
nehmen zu viel Zeit in Anspruch.
In Japan gibt es immer noch viele Unternehmen,
wo Mitarbeiter einen Computer mit anderen
Kollegen teilen muessen.
Sie muessen vielleicht das schreckliche japanische
Wort ?Karoshig gehoert haben. Es bedeutet
Tod durch Uberarbeitung. Die Anzahl der Todesfaelle
der Berufstaetigen, die das Arbeitsministerium
als ?Karoshig anerkannt hat, ist von 45
im Jahre 2000 auf 150 im Jahre 2005 gestiegen.
Es ist ein Anstieg von 233%.
Als ich Reporter beim japanischen Fernsehsender
war, habe ich fast jeden Tag bis 23 Uhr gearbeitet.
Einmal habe ich 3 Monate lang ohne einen
einzigen freien Tag - inklusiv Wochenende
- durchgearbeitet. Meine Geschaeftsreise
im Ausland dauerte normalerweise 3 Monate.
Ein ehemaliger Kollege von mir ist mit 47,
ein anderer mit Anfang 50 an schwerer Krankheit
gestorben. Offiziell wurden sie nicht als
?Karoshig - Opfer anerkannt. Die Familie
wuenschte sich das anscheinend nicht. Hochstwahrscheinlich
war jedoch die kontinuierliche Ubermuedung
einer der Gruende des zu fruehen Todes.
Die Zahl der Berufstaetigen, die durch Stress
am Arbeitsplatz psychisch erkrankt sind und
vom Arbeitsministerium als Opfer der Berufskrankheit
anerkannt wurden, ist 2006 um 60% im Vergleich
zum Vorjahr gestiegen. Es ist eine Spitze
des Eisberges, denn die Zahl der Antragssteller
ist viermal so hoch wie die anerkannten Faelle.
Im Vergleich zu Deutschland ist die japanische
Arbeitswelt noch nicht emanzipiert. Der Anteil
der Frauen, die verantwortliche Positionen
im Grossunternehmen haben, ist viel kleiner
als in Deutschland. Viele Maenner erwarten
immer noch, dass die Frauen nach der Heirat
das Unternehmen verlassen und sich zu Hause
um die Familie kuemmern.
Im Finanzunternehmen ist es ublich, dass
ein Teil der weiblichen Angestellten Uniform
tragen muessen und nur untergeordnete Aufgaben
wie Kopieren oder Teeservieren bekommen.
Sie sehen, dass es in Japan noch kein Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz gibt.
Der Anteil der Auslaender im japanischen
Unternehmen ist noch niedriger. Abgesehen
von den Fabriken auf dem Lande oder in billigen
Lokalen oder Supermaerkten in Tokio sieht
man kaum auslaendische Mitarbeiter im japanischen
Unternehmen. Es sei denn, dass ein Unternehmen
in eine schwierige Schieflage geraet und
die Rettung durch auslaendische Spitzenmanager
wie Carlos Ghosn brauchtc. Im Gegensatz
zu Deutschland ist Japan kein Einwanderungsland.
Der Anteil der auslaendischen Bevoelkerung
in Japan betraegt nur knapp 2%.
Ich kenne manche Europaeer, die fast 10 Jahre
in Japan gewohnt und fliessend Japanisch
gesprochen haben. Sie haben zwar einige Jahre
bei japanischen Unternehmen gearbeitet, sind
doch enttaeuscht ins Heimatland zurueckgekehrt,
weil sie keine Aufstiegchancen sahen. Ich
habe den Eindruck, dass deutsche Grossunternehmen
den auslaendischen Mitarbeitern viel bessere,
gleichberechtigte Karrierechancen als japanische Unternehmen
anbieten.
4. Japanische Arbeitswelt im Wandel
Seitdem die spekulative Seifenblase in der
japanischen Banken- und Immobilienwelt im
Jahr 1990 platzte, aenderte sich die japanische
Arbeitswelt rapid und grundlegend. Die Globalisierung
der Wirtschaft und der Aufstieg der ostasiatischen
Nachbarlaender ? insbesondere Chinas ? hat
diesen Wandlungsprozess nur beschleunigt.
Erstens ist das System der lebenslangen Anstellung
zusammengebrochen. Die Haeufigkeit des Jobwechsels
ist drastisch gestiegen. Viele Banken und
Boersenhaeuser haben den Kolleginnen und
Kollegen, die jahrelang treu und gehorsam,
und ihre Privatleben opfernd gearbeitet haben,
den Stuhl vor die Tuer gesetzt.
Japanische Arbeitsnehmer sind in einer sehr
prekaeren Lage, weil die japanische Wirtschaft
Begriffe wie Kuendigungsschutz, Sozialplan,
Interessenausgleich oder Betriebsverfassungsgesetz
uberhaupt nicht kennt.
In einem japanischen Grossunternehmen wird
man oft schon mit Mitte 50 aufs Abstellgleis
gesetzt. Man muss ca. 10 Jahre bis zum Rentenalter
uberbruecken. Manchmal arbeitet man als Gaertner,
Waechter oder Professor bei einer der zahlreichen
unbekannten Universitaeten auf dem Lande.
Das japanische Sozialnetz ist so loecherig
wie schweizerischer Kaese. Das Arbeitslosengeld
wird zum Beispiel nur ein halbes Jahr bezahlt.
Wer nur eine gesetzliche Basisrente hat,
bekommt ab 65 nur 312 Euro pro Monat. Mit
diesen Almosen laesst sich in einer teuren
Stadt wie Tokio nicht unbedingt angenehm
leben.
Nach dem Platzen der spekulativen Seifenblase
entstand eine fantastische Situation fur
Aussenstellen der auslaendischen Banken und
Finanzmakler in Tokio, weil sie gut ausgebildete
Japaner relativ leicht einstellen konnten.
Die Japaner, die bei auslaendischen Unternehmen
in Tokio arbeiten, wechseln den Arbeitsplatz
haeufig. Ich kenne manche Japaner, die schon
6 bis 7 Mal den Arbeitsplatz gewechselt haben,
zum Teil auf der Suche nach hoeherem Gehalt
und zum Teil wegen der Umstrukturierung oder
Fusion im Hauptsitz.
Die Japaner nennen die Jahre zwischen 1990
und 2000 ?das verlorene Jahrzehntg. Die
japanische Wirtschaft wurde von einer ernsthaften
Deflation und Wachstumsschwaeche heimgesucht.
Viele japanische Unternehmen hatten sich
nicht schnell genug an die Globalisierung
angepasst.
Die Arbeitskosten in Japan waren zu hoch
im Vergleich zu aufstrebenden ostasiatischen
Laendern. Aus diesem Grunde verlagern immer
mehr Unternehmen Produktionsstaette nach
China und anderen asiatischen Laendern. Die
Direktinvestition der japanischen Unternehmen
in China ist zwischen 2003 und 2004 um 49%
gestiegen.
Trotz der Verlagerung der Produktionsstaette
ins Ausland sank interessanterweise die Arbeitslosenquote
in Japan laut OECD von 5,4% im Jahr 2002
auf 4,7% im Jahr 2004. Es war ungefaehr die
Haelfte der damaligen Arbeitslosenquote in
Deutschland.
Warum ist die Arbeitslosenquote in Japan
niedriger als in Deutschland trotz der Verlagerung
der Produktionsstaette?
Laut Institut der Deutschen Wirtschaft waren
die Arbeitskosten pro Stunde im verarbeitenden
Gewerbe in Japan im Jahr 2004 um 38% niedriger
als in den alten Bundeslaendern. Die niedrige
Arbeitslosenquote in Japan ist auf die niedrigeren
Arbeitskosten im Vergleich zu Deutschland
zurueckzufuehren.
Die Japaner geben weniger als 20% des Bruttosozialprodukts
fur Sozialleistung aus, waehrend fast ein
Drittel des Bruttosozialprodukts in Deutschland
als Sozialleistung verwendet wird.
5. Schrumpfende Mittelschicht
Es gibt noch einen wichtigen Grund fur den
Rueckgang der Arbeitslosenquote, der auch
massgebend fuer die Erholung der japanischen
Wirtschaft in den letzten Jahren war.
Die japanische Wirtschaft profitiert vom
Niedriglohnsektor, dessen Anteil im Arbeitsmarkt
schnell waechst. Laut einer Statistik stehen
heute 33% der Beschaeftigten nicht in einem
festen, unbefristeten Arbeitsverhaeltnis,
sondern arbeiten als Teilzeitkraefte oder
Assistenten, die von Zeitarbeitsfirmen an
die grossen Unternehmen vermittelt werden.
Diese Hilfskraefte im befristeten Arbeitsverhaeltnis
haben oft keine Gehaltserhoehung und bekommt
keine Betriebsrente und Abfindung. Die Unternehmen
koennen diese Hilfskraefte ganz einfach entlassen,
indem sie den Vertrag nicht verlaengern.
Der japanischen Wirtschaft ist es gelungen,
durch die gezielte Erhoehung des Anteils
der Leihangestellten die Arbeitskosten substantiell
zu senken. Diese Massnahme hat zur Verbesserung
des Ergebnisses vieler japanischer Unternehmen
beigetragen. Selbst am Schalter einer Filiale
groser Banken in Tokio trifft man Leiharbeitskraefte.
Ich sehe uebrigens eine aehnliche Tendenz
in Deutschland. In den letzten Jahren haben
die Zeitarbeitsfirmen die meisten Personen
neu eingestellt. Immer mehr hoch ausgebildete
junge Deutsche arbeiten als Praktikanten
in Unternehmen, weil sie keinen passenden
Arbeitsplatz als Festangestellte sofort finden
koennen.
In Japan aendern sich die Arbeitsmoral und
die Werteeinstellung der jungen Generation
rapid.
Immer mehr junge Japaner meiden ein festes
Arbeitsverhaeltnis, weil sie nicht lange
unter den Vorgesetzten arbeiten wollen, die
sie oft als inkompetent und arrogant betrachten.
Viele haben auch Schwierigkeiten mit dem
menschlichen Verhaeltnis am Arbeitsplatz.
Und sie legen grossen Wert auf Freizeit und
flexible Arbeitszeit. Diese Leute sind ?Freeterg
genannt.
Das Wort ?Freeterg kommt von ?free Arbeiterg,
also eine freie Person, die nur jobbt. Das
japanische Arbeitsministerium schaetzte letztes
Jahr die Zahl der Freeter auf 1,9 Millionen.
Die Zahl hat sich seit 1992 fast verdoppelt.
Wenn Sie einmal in Tokio waren, muessen Sie
hohe Lebenshaltungskosten bemerkt haben und
sich wundern, wie jemand im Niedriglohnsektor
das teure Leben in Tokio ueberleben kann.
Viele junge Japaner konnen sich leisten,
im Billiglohnsektor zu bleiben, weil sie
oft keine Miete zahlen muessen, indem sie
im Elternhaus wohnen. Auch die Eltern sind
gluecklich, wenn die Kinder lange mit ihnen
zusammenwohnen.
Die ?Freeterg sind in der japanischen Arbeitsmarktstatistik
nicht als Arbeitslose registriert, auch wenn
sie zum Beispiel nur zwei Tage pro Woche
arbeiten.
Die Freeter stellen jedoch eine Bedrohung
fur das japanische Sozialversicherungssystem
dar.
In Japan muessten Selbstandige, Hilfskraefte
wie Freeter und Beschaftigte im befristeten
Arbeitsverhaltnis Beitraege in die gesetzliche
Basisrentenversicherung einzahlen.
Aber im Jahr 2004 haben 36% dieses Personenkreises
keinen Beitrag eingezahlt, weil ihr verfuegbares
Einkommen niedrig ist, und weil sie denken,
dass es sich nicht lohnt, den Beitrag in
die Basisrentenversicherung einzuzahlen.
Im Jahr 2004 hatte die gesetzliche Basisrentenversicherung
ein Defizit von 170 Milliarden Yen (oder
1,1 Milliarde EUR).
Noch bedenklicher ist die Zunahme der jungen
Japaner, die sich weigern, zu arbeiten oder
zu lernen. Diese Schicht wird ?NEETg (Not
in Employment, Education or Training) genannt. Das japanische Arbeitsministerium
schaetzte die Zahl der NEET auf 520.000 im
Jahre 2003. Ich betrachte die Zunahme von
Freeter und NEET als ein besorgniserregendes
Symptom der japanischen Krankheit.
Auch in Japan wird die Kluft zwischen den
Reichen und Armen immer groesser. Die Mittelschicht
schrumpft in Japan noch schneller als in
Deutschland.
Laut einer Untersuchung einer amerikanischen
Investmentbank Merrill Lynch haben 1,4 Millionen
Japaner ein Privatvermoegen uber 1 Million
USD. Fast jeder sechste Millionaer in der
ganzen Welt ist Japaner.
Die Japaner kaufen 46% aller Luxusgueter
in der ganzen Welt. Dieses Jahr habe ich
in Tokio gehoert, dass Luxuswohnungen in
Tokio, die mindestens 1 Million EURO kosten,
seit dem letzten Jahr wie warme Semmeln weggehen.
Auf der anderen Seite begehen jedes Jahr
seit 1998 mehr als 31.000 Japanerinnen und
Japaner Selbstmord. Es bedeutet, dass durchschnittlich
85 Personen pro Tag Selbstmord begehen. Das
sind schreckliche Zahlen.
Die Zahl des Freitodes ist nach dem Platzen
der spekulativen Seifenblase drastisch gestiegen.
Laut dem japanischen Polizeiamt ist die wirtschaftliche
Notlage der Hauptgrund des Selbstmords unter
den Personen zwischen 20 und 50 Jahren.
In japanischen Staedten sieht man ueberall
Reklame der Kredithaie-Unternehmen, die Jahreszinsen
von 20% verlangen. Viele Japaner in Geldnot
werden von diesen Reklamen leicht verfuehrt
und geraten in Teufelskreis.
An den Fluessen oder in den Parks in Tokio
sieht man zahlreiche Huetten, die die Obdachlosen
aus Pappkarton und blauen Kunststoffplanen
selbst gebastelt haben. Auch in der Unterfuehrung
des Bahnhofs in der Nahe vom luxurioesen
Einkaufsviertel Ginza schlafen die Verlierer
des Wettbewerbs. Diese Opfer sind Symbole
der Gesellschaft ohne engmaschiges Sozialnetz.
Zwischen 2000 und 2004 ist die Zahl der Japaner
mit einem Jahreseinkommen ueber 20 Millionen
Yen (125.000 EURO) um 18.000 gestiegen. Im
Gegensatz dazu ist die Zahl der Japaner,
die jedes Jahr weniger als 3 Millionen Yen
(19.000 EURO) verdienen, um 1,6 Millionen
gestiegen.
Im Jahre 1996 hatten laut Japanischer Zentralbank
10,7% der Haushalte in Japan kein Sparguthaben.
Im Jahr 2005 ist dieser Anteil auf 23,8%
gestiegen. Waehrend vermoegende Japaner immer
reicher werden, hat jeder vierte Haushalt
in Japan kein Geld auf dem Bankkonto.
Letztes Jahr hat die Zahl der Haushalte,
die von der Sozialhilfe leben, zum ersten
Mal die Marke von einer Million ueberschritten.
An den offentlichen Schulen in Grossstaedten
ist die Zahl der Schueler, die oeffentliche
Finanzhilfe von Gemeinde bekommen, zwischen
2000 und 2004 um 40% gestiegen. In einem
Bezirk in Tokio (Adachi-Bezirk) beziehen
fast 43% der Kinder diese Finanzhilfe, weil
die Eltern die Kosten fur Schulessen oder
Klassenausflug nicht zahlen koennen.
In Deutschland ist der Anteil der unter der
Armutsgrenze lebenden Menschen von 1998 bis
2003 von 12,1 % auf 13,5% gestiegen. Ich
sehe in beiden Laendern ein aehnliches Phaenomen.
Die Mittelschicht schrumpft, und die Kluft
zwischen den Reichen und Armen wird immer
groesser.
Ich finde es positiv, dass Deutschland den
Grundsatz der ?Sozialen Marktwirtschaftg,
das relativ engmaschige Sozialnetz und die
christlich beeinflussten Grundwerte hat.
In einem unstabilen Zeitalter wie heute finde
ich die japanische Gesellschaft prekaerer
als Deutschland, weil wir diese Grundsaetze
nicht haben. Viele Japaner sind ueber den
Zerfall der sozialen Werte besorgt.
6. Interkulturelle Erfahrungen intensiver
austauschen
Der Organisator dieser Veranstaltung moechte,
dass ich Ihnen auch uber meine interkulturellen
Erfahrungen erzaehle. Die Japaner legen grossen
Wert auf die Hoeflichkeit, das Einfuehlungsvermoegen,
die verbluemte Ausdrucksweise und die Ruecksichtsnahme
auf das Gefuehl der Anderen.
Aus diesem Grunde war am Anfang der direkte,
kritische und manchmal harsche Umgangston
in Deutschland eine negative UEberraschung
fuer mich. Ich finde es immer noch ruecksichtslos,
wenn ein deutscher Radfahrer laut schimpft,
wenn ein Auslaender auf dem Radweg geht,
weil er beim ersten Besuch in Deutschland
den Unterschied zwischen dem Radweg und dem
Buergersteig noch nicht kennt.
Die unfreundliche Haltung mancher deutscher
Verkaeufer in den Geschaeften war ein Kulturschock
fuer mich, weil die Kunden in Japan immer
noch wie ein Koenig behandelt werden. Das
Ladenschlussgesetz, das vor 17 Jahren viel
strenger als heute war, hat mich auch entsetzt,
da man in Japan oft bis 21 Uhr einkaufen
kann. Aber mittlerweile bin ich daran gewoehnt,
und das Ladenschlussgesetz wurde erfreulicherweise
aufgelockert.
Ich habe jedoch immer noch den Eindruck,
dass generell der Service-Gedanke in Deutschland
im Vergleich zu Japan noch nicht genug entwickelt
ist. Ich kann Ihnen ueber ein Beispiel erzaehlen.
Ich wollte einmal in einem grossen renommierten
Hotel in Frankfurt einchecken. Das Computersystem
war ausgefallen, und die Hotelangestellten
mussten manuell die Gaeste einchecken. Ich
habe die Schluesselkarte bekommen und bin
zum Gastezimmer gegangen. Als ich die Tuer
des Zimmers aufmachte, habe ich bemerkt,
dass jemand schon im Bett war.
Ich bin mit dem Gepaeck zum Empfang zurueckgegangen
und habe der Angestellten gesagt, dass das
Zimmer schon belegt war. Die junge Angestellte,
die einen genervten Eindruck machte, hat
ueberhaupt kein Wort der Entschuldigung gesagt
und stumm die Schluesselkarte ausgetauscht.
Sie hat nur Schulter gezuckt und hat gesagt,
? So etwas koennte immer passieren.
Aus logischer Hinsicht ist einwandfrei, was
diese Dame gesagt hat. Sie muss sich in Deutschland
nicht entschuldigen, weil sie keine Schuld
am Computerausfall hat. In Japan koennte
jedoch solch ein Verhalten ein Kuendigungsgrund
sein. In Japan ist das Wort der Entschuldigung
kein Schuldgestaendnis, sondern ein Mittel,
das die Reibung und Irritation unter den
Menschen reduzieren soll.
Ich wollte mich gar nicht beschweren, dass
sie einen kleinen Fehler gemacht hat. Fehler
ist menschlich. Aber in Japan sollte eine
Angestellte schon ?Entschuldigungg sagen,
wenn der Kunde eine Unannehmlichkeit erlebt
hat, auch wenn sie keine persoenliche Schuld
daran hat. In diesem Augenblick repraesentierte
sie das ganze Hotel vor den Augen des Kunden.
Aber ihr unfreundliches Verhalten hat bei
mir einen schlechten Eindruck ueber das ganze
Hotel hinterlassen. Sie hat anscheinend nicht
verstanden, dass eine kleine nette Geste
im Dienstleistungsbereich wichtig ist. Und
manche Gaeste aus einer anderen Kultur koennten
besonders empfindlich sein.
In Deutschland ist oft die Logik wichtiger
als das Gefuehl. In Japan ist es das Gegenteil.
Der Anspruch der Kunden ist in manchen Aspekten
hoeher als in Deutschland.
Die Japaner legen auch viel Wert auf Teamgeist
und enge Kommunikation in der Gruppe. In
japanischen Firmen bleiben die Mitarbeiter
im Buero, solange der Abteilungsleiter arbeitet.
Deswegen habe ich am Anfang manchmal den
Teamgeist in Deutschland vermisst. Aber ich
geniesse jetzt die positive Seite des Individualismus.
Ich habe viel ueber die Auslaenderfeindlichkeit
in den neuen Bundeslaendern recherchiert,
um Buecher und Artikel zu schreiben. Ich
fand die grosse Anzahl der UEbergriffe im
Jahr 1992 beaengstigend. Ich persoenlich
habe Gott sei Dank keine UEbergriffe erlebt.
Aber von meinen bekannten Japanern, die in
Berlin wohnten, habe ich unglaubliche Geschichten
erfahren.
Es war wirklich ein grosser Schock fur mich,
dass so was in einem zivilisierten Land wie
Deutschland passieren konnte. Auf der anderen
Seite fand ich die Tatsache beruhigend, dass
der Grossteil der Deutschen die Auslaenderfeindlichkeit
scharf verurteilt hat.
Ich habe seit 1989 intensiv ueber die Aufarbeitung
der Geschichte in Deutschland recherchiert
und geschrieben. Ich habe letztes Jahr ein
Buch zu diesem Thema in Japan veroeffentlicht
und halte oft Vortraege in Deutschland und
Japan. Ich finde es schade, dass der groesste
Teil der Japaner die Aufarbeitung der Geschichte
ablehnt.
Sie behaupten, dass sich Japan schon oft
genug entschuldigt hat, und dass man die
Verbrechen der Deutschen und Japanern nicht
vergleichen kann. Die Tatsache, dass China
noch kein demokratischer Staat mit Meinungsfreiheit
ist, und ihr Geschichtsunterricht zum Teil
einseitig und patriotisch ist, erschwert
die Versoehnung.
Ich bin jedoch fest uberzeugt, dass eine
kritische Auseinandersetzung mit der eigenen
Geschichte eine Voraussetzung fur eine reibungslose
internationale Beziehung ist. Wir koennten
jeden Augenblick von der Vergangenheit eingeholt
werden, wenn wir die Geschichte unaufgearbeitet
lassen.
Mit der Globalisierung der Wirtschaft wird
der internationale Kontakt immer haeufiger
und intensiver. Deswegen wird meines Erachtens
das interkulturelle Einfuehlungsvermoegen
an Bedeutung gewinnen. Die Geschaeftsleute,
Akademiker und Journalisten aus verschiedenen
Kulturen sollen noch intensiver die Erfahrungen
und Meinungen austauschen. In diesem Sinne
freue ich mich auf eine rege Diskussion mit
Ihnen.
Vielen Dank fuer Ihre Aufmerksamkeit.